München, den 15.07.2021

Kindersegen und Klimakrise
(Eingereichter Leserbrief)

Kommentar zu N. Ederer & J. Schubert: In Zeiten wie diesen? (SZ 156: 36 vom 10.-11.07.2021):

Der Beitrag, prachtvoll ergänzt mit Meister-Adebar-Skizzen, ließt sich über weite Strecken wie eine Empfehlung des Diktums dominium terrae „Wachset und mehret Euch, ....“. Malthusianismus (Begrenzung der möglichen Größe einer Population durch die Menge der für sie nutzbaren Rohstoffe) und Antinatalismus (Unterlassung human-biologischer Vermehrung aus ethischen Gründen) werden schlechtgeredet; ebenso viele der Hauptthesen wegweisender Werke von P. & A. Ehrlich (1968) Die Bevölkerungsbombe und D. Meadows et al. (1972) Die Grenzen des Wachstums (Club of Rome): Tief besorgte, sehr ernst gemeinte Warnungen vor gesellschaftlich-politischen Krisen, Umweltbeeinträchtigungen und Hungersnöten wegen Überbevölkerung: Denn der Versuch, sich in einer endlichen und vielfach begrenzten Welt grenzenlos vermehren zu wollen, ist ein riskantes Verhalten, über dessen mögliche Folgen verantwortungsbewusste Wissenschaftler die Öffentlichkeit informierten. Demgegenüber behauptet die Textautorin, der Begriff Überbevölkerung sei für Krisen-, Zusammenbruchs- und Umweltkatastrophenmärchen nur verzweckt worden.

Es ist nicht richtig, wenn die Textautorin im 7. Absatz auf Seite 36 behauptet, dass „viele Kinder ... also keineswegs zwangsläufig zu mehr Treibhausgasen“ führen. Das ist aber schon bei niedrigem Lebensstandard der Fall, weil wegen des Lebensunterhalts einer größeren Zahl an Individuen zusätzlich fossile Rohstoffe verbraucht werden müssen. Und je höher Lebensstandard, ökologischer Fußabdruck und Wirtschaftsentwicklung sind, desto höher der pro Kind erfolgende Beitrag zum Klimawandel, sofern weiterhin fossile Rohstoffe verwendet werden. In vielen Entwicklungsländern hat sich der Lebensstandard inzwischen gebessert; dieser Kurs wird sich fortsetzen. Folgerichtig wird auf Seite 37 im vorletzten Absatz des Aufsatzes zitiert: „Je mehr Menschen, desto mehr Nachfrage nach Energien und materiellen Gütern“. Der Durchsatz Letzterer erreichte 2015 eine Größe von ca. 316 Gigatonnen/Jahr; es ist offenbar, dass eine solche Entwicklung nicht nachhaltig sein kann, weil die nutzbaren Mengen fossiler Rohstoffe begrenzt sind.

Ca. 5,3 Mrd. Personen kamen seit Beginn meines Daseins hinzu; mir bereitet eine solche radikale und präzedenzlose Entwicklung Unbehagen, wenn nicht gar Angst; auch deshalb, weil es viele Jahrtausende bis zum Erreichen der ersten Milliarde Menschen im Jahr 1804 dauerte.

Zwischen 1960 und 2006 hat sich die Weltbevölkerungszahl auf 6,6 Mrd. verdoppelt; aber es konnte im selben Zeitraum nur 11% mehr Ackerfläche hinzugewonnen werden. Die Flächendefizite wurden jedoch durch Anwendung künstlicher Düngemittel mehr als ausgeglichen; auch wegen der Pflanzenschutzmittel entstanden große Schäden an Grund- und Oberflächenwässern, Böden, der Atmosphäre und der natürlichen Lebewelt. Wegen Verknappung nimmt inzwischen das Phosphat die Spitze der Bedarfspyramide mineralischer Rohstoff ein. Noch niemand weiß, wie im Jahr 2050 ca. 10 Mrd. Personen täglich satt werden sollen. Seit 2015 steigt global die Zahl unterernährter Personen: 2020 waren es mit 811 Millionen ca. 10,4% aller. Warum hat man ein solch immenses Versorgungsrisiko, gepaart mit einer unvorstellbar hohen, kaum mehr tragbaren Verantwortungslast entstehen lassen?

7,8 Mrd. Personen leben derzeit. Wie will man eine so große und weiter anwachsende Zahl an Menschen zeitnah gegen Sars-Covid-19 und alle weiteren zu erwartenden Pandemien impfen?

Es irritiert, wenn bei einem Kommentar über Prognosen aus Modellierungen eines komplexen, gefährlichen und schon weit vorangeschrittenen Problems wie dem des Klimawandels wesentliche Zusatzinformation weggelassen wird: „Fast alle Szenarien, die das IPCC in seinen Modellrechnungen vorschlägt, um die Pariser Klimaziele einzuhalten, können unter jeglicher Bevölkerungsprognose erreicht werden“: Freilich ist dieser Satz formal korrekt, verweist aber nicht auf die im IPCC-Sonderbericht 2019 genannten Herausforderungen an Anpassung und weiter bestehenden sozialen Ungleichheiten - also zusätzlichen Leidensdruck - bei mäßigem Bevölkerungszuwachs im Falle des shared socioeconomic pathway 2; und es wird nicht explizit gesagt, dass bei hohem Bevölkerungszuwachs (SSP3) das Pariser Klimaziel nicht mehr erreicht werden kann. Ferner zitiert die Textautorin: „...Treibhausgasemissionen... auf null zu bringen..., geht mit Politik und Technologien viel schneller, als wenn man auf eine sinkende Bevölkerungszahl setzt“. Auch in dieser Aussage blieb es unterlassen, den zusätzlichen Leidens- und Anpassungsdruck bei erhöhter Bevölkerungszahl zu nennen.

Problematisch ist die im letzten Absatz gebrachte Ansicht, dass aus ökonomischer Sicht mehr Menschen auch mehr Innovationen und Ideen bedeuten, die dabei helfen können, die Emissionen zu senken: Hier geht es doch nicht um Ökonomie, sondern um Bildung und um den Grundsatz Qualität vor Quantität: Vermassung bedeutet stets geistigen Niveauverlust, weil der Versuch, immer mehr Menschen intellektuell hochwertig zu fördern, entweder in Überforderung mündet oder in stumpfer, ermüdender Routine endet. Jeder vernünftige Pädagoge weiß, dass gutes Mentorin nur in kleinem Kreis möglich ist.

Der Beitrag ist tendenziös und grenzt an Verantwortungslosigkeit. Das wäre wohl mit mehr Tiefgang und Differenziertheit vermieden worden.

Ergänzungen:

- Im Beitrag wird nicht unterschieden zwischen fossilen und grünen Energieträgern.

- Seite 36: 1. Spalte, 1. Absatz, 1. Satz: Der Begriff Einsicht impliziert immer eine gedachte räumliche Dimension. Unpassend deshalb das gewählte Adjektiv „Großflächig“; „Tief“ hätte besser gepasst.

- Seite 36, 2. Spalte, 2. Absatz, 1. Satz: Armut ist kein Verhältnis, sondern ein Zustand.

- Seriöse Information zu Überbevölkerung und Klimawandel:
SZ 157: 13 vom 12.07.2021.
Herman E. Daly (2005): Economics in a full world, Scientific American 293(3):100-7, http://dx.doi.org/10.1038/scientificamerican0905-100.
Garrett Hardin (1968): The Tragedy of the Commons, Science, 162, Issue 3859: 1243-1248, http://dx.doi.org/10.1126/science.162.3859.1243.
IPCC Sonderbericht (2019): Klimawandel und Landsysteme, Seite 13 https://www.ipcc.ch/site/assets/uploads/2020/07/SRCCL-SPM_de_barrierefrei.pdf.

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