Kommentar (26.07.2020) zur Diskussionsrunde „Nachhaltig in Zeiten von Corona und Klimakrise“ im LMU-Audimax am 15.07.2020 abends

Sehr geehrte Damen und sehr geehrte Herren,

mit großem Interesse verfolgte ich Ihre Diskussionsrunde. Wenn Sie wollen, können Sie auf den folgenden Zeilen meinen Kommentar dazu lesen. Ich beschränke mich dabei auf nur wenige Punkte (im Text hervorgehoben), die zur Sprache kamen:

Die Tatsache, dass in der Coronakrise die Politik entschlossener handelte als in der Klimakrise, ist wohl auch eine Folge mangelnden Feingespürs des Durchschnittsmenschen. Wenn, vereinfacht gesagt, seuchenbedingt die Toten direkt vor der Haustüre liegen, braucht es kein Feingespür mehr, um die Gefahr zu erkennen und entsprechende Schritte von Politikern oder behördliche Verordnungen zu akzeptieren oder sogar gutzuheißen.

Wie unsensibel und fahrlässig trotz direkt drohender Gefahr dieser Art mancherorts reagiert wurde, zeigte das Verhalten chinesischer Behörden bei Bekanntwerden des Ausbruchs der Corona-Seuche (eine ähnlich irreführende Informationspolitik seitens der UDSSR bestand schon im April 1986 unmittelbar nach der Tschernobyl-Katastrophe), zeigten die im zeitlichen Nahfeld der Lockdowns erfolgten Auswüchse des Ischgl- und Mallorca-Tourismus, zeigte der tragisch verlaufene Sonderweg des v. a. auf Mitbürger-Eigenverantwortung setzenden schwedischen Modells der Corona-Eindämmung und zeigten die törichten und rücksichtslosen Handlungsweisen wirtschaftshöriger Regierungschefs (e. g. USA, Brasilien). Prinzipiell ähnlich lief es betreffend letzteren Fall vor ca. 100 Jahren bei der Ausbreitung der Spanischen Grippe.

Ich finde es bedenklich, wenn nur wenige Monate nach dem Höhepunkt der Corona-Seuche mit vielen zehntausend Toten in Europa schon wieder an Sommerurlaubsvergnügungen gedacht wird, anstelle in Solidarität zu trauern und auch aus Vorsichtsgründen auf Reisen zu verzichten (es war doch vor allem das Übermaß an physischer Mobilität, das diese Seuche so rasch zur Pandemie werden ließ); nochdazu soll dann für die Folgen solchen überzogenen Freiheitsgebarens die Gemeinschaft die Corona-Tests von Urlaubsheimkehrern zahlen (seltsam, dass erst spät die Möglichkeit angesprochen wurde, sie nach Rückkehr in 14-tägige Quarantäne zu stecken). Es erstaunt, dass deutsche Urlauber sich nicht kurz vor ihrer Ausreise testen lassen müssen: denn sie könnten infiziert sein und in den Urlaubsländern die Seuche weiterverbreiten. Mangelndes Feingespür zeigen auch Verleger, indem sie nach dem Lockdown schnell wieder Werbung für Urlaub auf einigen Seiten diverser Zeitungen und Zeitschriften schalteten. So wird nachhaltige Seucheneindämmung torpediert. Die Frage sollte auch gestellt werden, ob Europa die Folgen einer zweiten Seuchenwelle finanziell bewältigen kann oder dann pleite ist (Europas Corona-Schulden betragen bis dato mehr als 1,8 bn €).

Zur problematischen Reaktion der Politik auf die Klimakrise: Solange ihre gravierenden Folgen abstrakt und weit weg sind, solange die hier noch abgeschwächt wirkenden Klimawandelfolgen technisch kompensierbar und bezahlbar sind, solange die Lieferketten aus dem Ausland nicht abreißen, solange die Beeinträchtigungen (Arbeitsleistung, Denkvermögen, Lebenserwartung, disability adjusted life years) und die Toten durch Feinstaub, Umweltchemikalien und Hitzewellen abstrakt bleiben, die Discounterregale gefüllt sind und die Produktpreise „stimmen“, scheint mangels Feingespür und Verantwortungsbewusstsein keine direkte Bedrohungslage für den einzelnen Verbraucher dieser Region zu bestehen und deshalb kein unmittelbarer Handlungsbedarf durch Politik und Behörden gegeben; selbst dann, wenn in anderen Erdteilen wegen des von den Industriestaaten verursachten Klimawandels Nachteile, Schäden und Verluste entstanden und bekannt geworden sind. Das ist sehr riskant - weil die Welt wegen globaler Vernetzung und Fernversorgungssysteme verletzlicher geworden ist - und moralisch nicht in Ordnung, v. a. weil es heißt, der Mensch sei ein soziales Wesen. Aber scheinbar endet bei zu Vielen ihr soziales Gespür spätestens am eigenen Tellerrand, das entsprechend individueller Einstellung vom eigenen Gartenzaum bis zur Staatsgrenze reichen kann. Die Position „Hauptsach', mir geht’s gut“ ist verwerflich: Denn es führt zu moralischer Verrohung und kann nur allgemeines Unheil nach sich ziehen, wenn toleriert wird, dass zur Aufrechterhaltung von Wohlstand an anderen Orten Pflanze, Tier und Mensch bzw. ihre Habitate Schaden nehmen oder zerstört werden. Wie gefährlich es werden kann, Missstände und Ungerechtigkeiten zu ignorieren, ist spätestens seit der NS-Zeit bekannt. Moralische Integrität geht verloren, Konflikte und Risiken werden verstärkt.

Darauf zu warten, bis durch einen gesamtgesellschaftlichen Lernprozess die Mehrheit der Menschen ein höheres Niveau an Feingespür und Bewusstsein entwickelt hat, das die angestrebten Verhaltensänderungen (die m. E. im Wesentlichen nur Verzicht bedeuten können) betreffend Klimakrise nach sich ziehen würde (z. B. Wenden im Lebensstil, Ressourcenverbrauch, Ernährung, Mobilität, etc.), wäre wohl falsch, weil eine Kollektiventwicklung so vieler Menschen in diese sehnlichst gewünschte Richtung zu lange dauert und von dagegen anlaufenden, leider etablierten, weil mehrheitlich tolerierten Verhaltensweisen(1) torpediert wird. Nach C. De Duve ist der archaische Vorgang des Profitmachens ohne Rücksicht auf seine Nebenwirkungen vor Jahrtausenden evolutionär entstanden und somit genetisch verankert. Diese Eigenschaft zusammen mit Kooperation begründeten den „Siegeszug“ seiner Art an die Spitze der Nahrungskette. Gedanken über Nachhaltigkeit und Ökologie wurden jedoch erst vor wenigen Jahrhunderten publik (von Carlowitz 1713, Haeckel 1866). De Duve stellte fest, dass ein kollektiver Wandel hin zum nachhaltigen Wirtschaften sehr lange dauern würde, weil ein solches Verhalten im genetischen Programm des Menschen nicht eingeschrieben ist und somit erst mühsam erlernt werden müsste. Ich zweifle deshalb, ob ein solcher Entwicklungsschritt innerhalb der von Klimamodellrechnungen prognostizierten Zeitfenster noch rechtzeitig erfolgen kann.

In der Diskussionsrunde kam auch die Rede auf die Vernunft sowie die Vernunftpflicht betreffend Tier- und Umweltwohl, sinnvolle CO2-Bepreisung, Biodiversitätsschutz, Entscheidungen über den Kauf klimaschädlicher Produkte wie z. B. Rindfleisch oder Dienstleistungen wie Flüge. Wenn es tatsächlich so wäre, dass Vernunft und Gerechtigkeitspflicht in der Gesellschaft den Stellenwert und die Bedeutung hätten, die ihr in der Diskussionsrunde zugesprochen wurden, dann bestünde wohl eine bessere Welt als die derzeitige, die von vielen, z. T. sehr gefährlichen und besorgniserregenden Konflikten, Zerrissenheiten, Gegensätzen, Spaltungen und Extremen geprägt ist.

Aus Kognitionswissenschaft und Psychiatrie ist bekannt, dass der emotionale, also irrationale Anteil im menschlichen Gehirn evolutionsbedingt wesentlich stärker entwickelt ist als der rationale. Es ist sehr erfreulich und macht Mut, dass während der Corona-Krise das Vertrauen in die Wissenschaft gestiegen ist und sich wissenschaftsbasierte Politik weiter etablieren konnte. In der Phase bekamen Wissenschaft und Vernunft vorübergehend die ihnen gebührenden Stellenwerte. Dennoch werden neben den im Absatz oberhalb genannten Problemen auch Strömungen und Erscheinungen wie z. B. Esotherik, Astrologie, Trumpismus, Nationalismus, alternative Fakten, flat-earth-conspiracy, Impfgegner, Homöopathie, etc. immerfort weiterbestehen.

Ich frage mich ernsthaft, ob der Durchschnittsmensch tatsächlich ein vernunftbegabtes Wesen sein kann und er deshalb die Klimakrise auf die oben genannte Weise (gesamtgesellschaftlicher Lernprozess) noch rechtzeitig in den Griff bekommen wird. Vernunft wird seit I. Kant als die Fähigkeit zur Erkenntnis, Einsicht und Ideenbildung sowie als Regulativ für Richtung und Sinn des Wollens und Handelns gesehen. Vernunftbestimmtes und somit risikominimiertes Leben setzt tiefe, gründliche und gereifte Verstandes-, Reflexions-, Übersichts- und Bewertungsleistung voraus, zu der wohl nicht jeder Durchschnittsmensch befähigt ist. Beispiele folgenschwerer Unvernunft sind Legion: in Anbetracht

  • der vom Menschen erzeugten Material- und Energieströme(2) und der damit hervorgerufenen Versorgungs- und Nachhaltigkeitsprobleme,
  • der durch diese Ströme und technologischen Einseitigkeiten zementierten Pfadgebundenheiten, Abhängigkeiten und impliziten Natur- und Kulturverluste/-schäden,
  • der Unersättlichkeit der Ansprüche des Menschen und seiner Mißachtung der Problematik wirtschaftlichen und humanreproduktiven Wachstums in einer begrenzten und verletzbaren Welt;
  • der Tatsachen, dass 97% aller Wirbeltiere an Land nur mehr aus Mensch und Nutztier bestehen sowie nachgewiesen ist, dass das erreichte Ausmaß traditionellen Wirtschaftens und der Erhalt der Biodiversität sich gegenseitig ausschließen (https://doi.org/10.1111/conl.12713 );
  • von zehntausenden großen Schlachthäusern und ca. 1,8 Mrd. Fahrzeugen mit Gasverbrennungsmotoren,
  • der riskanten Auslagerung der pharmazeutischen Industrie aus der BRD nach Fernost,
  • der Tatsache, dass ein Mensch den Gedanken „man kann heutzutage mit Geld alles regeln“ fasste und aussprach,
  • der Gegenwart von global ca. 500 Atomkraftwerken und gut 15300 Nuklearsprengköpfen (davon 4100 gefechtsbereit),
  • der Tatsache, dass die doomsday-clock seit Juni 2020 auf 100 Sekunden vor 0 Uhr steht,

meine ich, dass die Vernunftfähigkeit des Durchschnittsmenschen ungenügend entwickelt ist. Deshalb überfordert ihn auch die Klimakrise, weswegen sie so weit fortschreiten konnte. Obwohl man spätestens seit 1992 Bescheid weiß (Weltklimakonferenz von Rio de Janeiro) und seitdem inkonsequenter Weise die wachsenden Probleme prokrastinierte, immer mehr davon hinzukommen ließ und damit weiteren gefährlichen Emergenzen und negativen Synergien Tür und Tor öffnete.

Mit der Industrialisierung hat man begonnen, das physische menschliche Maß (100kWh/Jahr) technisch immer weiter zu überbieten. Aus anfänglicher Unwissenheit, später aus ökonomischen Gründen und trotz besseren Wissens blieben die durch das in wachsendem Umfang betriebene maschinenbasierte Wirtschaften hervorgerufenen Wirkungen auf Klima und Lebewelt größtenteils unberücksichtigt; auch Vorsicht und Bedachtsamkeit fanden zu wenig Beachtung; Selbstverpflichtung zum Klimaschutz wurde kaum umgesetzt. Konsequent daraus entstand die Risikogesellschaft. Ihr Dasein widerspricht der Behauptung, der durchschnittliche Mensch sei ein vernünftiges Wesen. Man müsste ihn vor sich selbst - hier den Folgen seines Handelns, die dem Klima und der Umwelt schaden - schützen; aber dafür gibt es noch keine übergeordnete Einrichtung, die mit der erforderlichen Autorität ausgestattet ist.

Das Zeitalter der Aufklärung war ein überfälliger Aufbruch heraus aus und weg mit Aberglauben, Unwissen, Religions-Gefängnis, Dogmen, Denkverboten und hin zur analytischen wissenschaftlichen Methode und zum selbstverantwortlichen Denken, Entscheiden und Handeln. Es war aber auch eine der Grundlagen der Industrialisierung, des Individualismus, des Kapitalismus mit seinen immer größeren und riskanteren Geld- und Güterakkumulationen und damit der Beginn großmaßstäblicher Ausbeutung von Menschen und Ressourcen. Das ist 300 Jahre her und geschah in einer damals noch leeren Welt. So fordert E. U. von Weizsäcker eine neue Aufklärung für eine volle Welt und meint, dass „... wir über genügend Wissen verfügen, die erforderlichen Veränderungen für den Erhalt der Welt zu schaffen“; weshalb bestimmte Trends, Weltanschauungen und Überzeugungen aufgegeben werden müssen: das sind die in der Diskussionsrunde genannten Exnovationen. Aber leider sprechen gegen ihre erfolgreiche, nachhaltige und rechtzeitige Umsetzung die oben genannten etablierten Verhaltensweisen des Menschen und die nicht wenigen dunklen Seiten seiner genetischen Eigenschaften. Und mit der Aufforderung zur Vernunftpflicht wird bei vielen Menschen wohl kaum etwas zu erreichen sein: denn wo nichts oder nur ganz wenig von der gewünschten Eigenschaft vorhanden ist, bleibt eine auf ihr gründende Verhaltensweise unerreichbar.

Zusammenfassend sehe ich die gegenwärtige Situation betreffend Klima und Umwelt pessimistisch. Es ist schwer erträglich, wenn inzwischen die Gewissheit vor meinem inneren Auge steht, dass mein Leben (Jg. 1957) bestenfalls enden wird in großer Unsicherheit darüber, ob die Transformation in eine klima-, ressourcen- und umweltverträgliche Lebensweise der Menschheit überhaupt durchsetzbar ist; und wenn ja, ob dieser Schritt noch rechtzeitig gelingt. Die Vorstellung, dass dies wegen eines kollektiven Sich-Ergebens, eines Hineingezogen-Werdens und eines Sich-Hineinziehen-Lassens in einen alles zerstörenden ökonomischen Determinismus nicht gelingen könnte und in dem Fall alle positiven kulturellen Errungenschaften umsonst erdacht und geschaffen worden sind, ist unerträglich. In dem Fall wäre meinem Leben, den Leben aller anderen 7,7 Mrd. Personen und allen weiteren bisher gelebten Menschenleben (ca. 100 Mrd.) jeder Sinn für immer entzogen worden.

Zivilisation kann dann und nur dann als erfolgreich bezeichnet werden, wenn durch sie Natur sowie Tier- und Pflanzenwohl nicht beeinträchtigt werden und die sozialen, ethischen und politischen Standards gewährleistet sind. Der Weg dahin scheint aber immer weiter geworden zu sein.

Natürlich denke ich an der Stelle auch an mein eigenes Umweltversagen, das zu dieser Situation beigetragen hat, indem ich die eigene Klimawandel-Lebensbilanz aufzustellen begonnen habe mittels der Schätzung meines Energieträger- und Materialverbrauch: die Hauptpunkte: Drei Interkontinentalflüge, 450000 km per PKW; aktuelle Jahresverbrauchszahlen: Strom: 649 kWh; Wärme: 2315 kWh. Mein aktueller ökologischer Fußabdruck entspricht 1,6 Erden auf dem online-Rechner des Herrn Mathis Wackernagel.

Ich kann die Proteste der jungen FridaysForFuture gut verstehen und geniere mich vor der Jugend. Es ist schade, dass ein entsprechender Aufschrei bei den Alten unterblieb; wohl deshalb, weil zu wenige von ihnen nicht in das schädliche System involviert waren und nicht davon profitierten.

Mit freundlichen Grüßen!

Hubert Engelbrecht

1 Egoismus, Bequemlichkeit, Gier, Indifferenz, Sturheit, Gewöhnung und Gewohnheit, („Humans are allergic to change“, „Never change a running system“, Individualismus („Ich bin völlig frei und kann mit meinem Geld machen, was auch immer ich will!“), Inkonsequenz, Irrationalität, Eskapismus.

2 316 GT/Jahr. Zur Veranschaulichung der Materialgröße: Sie entspricht einem Granitwürfel mit 4,9 km Kantenlänge. Die Menge entspricht der 24-fachen jährlichen Sedimentanlieferung aller großen Flüsse an ihren Meeresdeltas. 614 Exajoule/Jahr. Zur Veranschaulichung der Energiegröße: Sie entspricht bei maximaler Jahresarbeitsleistung einer jungen und gesunden Person - 100kWh - im Durchschnitt ca. 220 Arbeitssklaven pro Weltbürger, wenn man sich die gesamte Maschinenarbeit manuell bewältigt denkt.

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